Rechtsmissbräuchliches Berufen auf Beschlussunfähigkeit der Gesellschafterversammlung (OLG Hamburg, Urteil vom 09.11.1990, Az.: 11 U 92/90)

Leitsatz:

  • Führt ein Gesellschafter die Beschlussunfähigkeit einer Gesellschafterversammlung dadurch herbei, dass er die Versammlung boykottiert, so können dieser Gesellschafter nicht gegen einen ohne ihn gefassten Beschluss im Wege der Anfechtungsklage vorgehen. Der Anfechtungsklage steht der Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegen.

Aus dem Tatbestand:

Die Kl. fechten einen Gesellschafterbeschluß der Bekl. an, durch den der Gesellschafter M zum Geschäftsführer bestellt wurde. Die Bekl. betreibt das Barkassengeschäft im Hamburger Hafen. Die Kl. sind zusammen mit weiteren Personen Gesellschafter der Bekl. Alle Gesellschafter halten gleich hohe Geschäftsanteile und sind Angestellte der Bekl. Am 8. 10. 1989 berief der Geschäftsführer der Bekl. eine außerordentliche Gesellschafterversammlung auf den 24. 10. 1989 ein. Einziger Tagesordnungspunkt war die Bestellung eines neuen Geschäftsführers. Am 24. 10. 1989 kamen daraufhin die Gesellschafter zusammen, wobei jedoch der Kl. zu 2 fehlte. Es wurde deshalb die Beschlußunfähigkeit der Versammlung festgestellt, die darauf beruhte, daß § 11 I der Satzung die Beschlußfähigkeit davon abhängig macht, daß das gesamte Stammkapital vertreten ist. Mit Schreiben vom 25. 10. 1989 wurde daraufhin eine erneute Gesellschafterversammlung auf den 9. 11. 1989 einberufen. Diese Einladung enthielt neben dem oben genannten Termin einen weiteren Tagesordnungspunkt und den Hinweis, daß die Versammlung gem. § 11 II der Satzung beschlußfähig sein würde, wenn mindestens 60 % des Stammkapitals vertreten wären. Am 9. 11. 1989 wurde die Gesellschafterversammlung dadurch beschlußunfähig, daß der Kl. zu 1 und der Gesellschafter H die Versammlung vor deren offiziellen Beginn verließen, so daß – da der Kl. zu 2 wegen Krankheit abwesend war – nur noch vier Gesellschafter, die zusammen weniger als 60 % des Stammkapitals auf sich vereinigen, anwesend waren. Daraufhin berief der Geschäftsführer mit Schreiben vom 9. 11. 1989 erneut eine Gesellschafterversammlung ein, und zwar zum 24. 11. 1989, wobei in der Einladung darauf hingewiesen wurde, daß sich die Mehrheit auch bei Nichterreichen des Quorums von 60 % des Stammkapitals für beschlußfähig hielte. Dieser Termin wurde jedoch mit Schreiben vom 20. 11. 1989 abgesagt und die Versammlung nunmehr zum 8. 12. 1989 geladen, wobei der Hinweis wiederholt wurde. Gegen den am 8. 12. 1989 von den vier anwesenden Gesellschaftern einstimmig gefaßten Beschluß, den Gesellschafter M zum Geschäftsführer zu bestellen, wandten sich die Kl. mit ihrer am 18. 12. 1989 zugestellten Klagerweiterung, die in der zweiten Instanz allein noch im Streit ist. Sie haben vorgetragen, der Beschluß sei schon deswegen nichtig, weil das satzungsgemäß notwendige Quorum für die Beschlußfähigkeit nicht erreicht worden sei. § 11 II der Satzung sehe vor, daß bei einer Wiederholungssitzung 60 % des Stammkapitals vertreten sein müsse, um die Gesellschafterversammlung beschlußfähig zu machen. Die vertretenen 4/7 des Stammkapitals machten aber weniger als 60 % des Stammkapitals aus.

Das LG hat die Klage abgewiesen, die Berufung der Kl. blieb erfolglos.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Kl. berufen sich rechtsmißbräuchlich auf die satzungsgemäße Beschlußunfähigkeit der fraglichen Gesellschafterversammlung der Bekl.

Zunächst ist festzuhalten, daß die Gesellschafterversammlung fristgerecht i. S. des § 11 II der Satzung einberufen worden ist. Die Einberufung vom 20. 11. 1989 hat innerhalb der Dreiwochenfrist gelegen. Einberufung bezeichnet nämlich nach juristischem Sprachgebrauch die Einladung zu der Versammlung und nicht etwa den stattfindenden Termin (vgl. nur § 123 I AktG).

Zwar ist in der Gesellschafterversammlung vom 8. 12. 1989 das für die Beschlußfähigkeit gemäß der Satzung erforderliche Quorum von 60 % des Stammkapitals nicht erreicht gewesen, doch ist den Kl. eine Berufung hierauf wegen Verstoßes gegen gesellschaftliche Treuepflichten verwehrt, weil sie die Beschlußunfähigkeit selbst bewußt herbeigeführt haben, um den angefochtenen Beschluß zu verhindern.

Entgegen der Rechtsauffassung der Kl. sollen die Bestimmungen über die Beschlußfähigkeit nicht eine Grenze für die zur Beschlußfassung erforderliche Mehrheit aufstellen. Vielmehr besteht der Sinn und Zweck derartiger Regelungen darin, den Entscheidungsprozeß auf einer hinreichend breiten Basis stattfinden zu lassen, nicht jedoch, das Entscheidungsergebnis von qualifizierten Anforderungen abhängig zu machen (vgl. Hoffmann=Riem, NJW 1978, 393). Dies wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Bestellung eines Geschäftsführers auch dann wirksam gewesen wäre, wenn bei Anwesenheit aller Gesellschafter nur einer mit ja gestimmt, die übrigen sich aber ihrer Stimme enthalten hätten.

Demnach soll § 11 II der Satzung sicherstellen, daß Entschlüsse nur gefaßt werden, wenn eine Mindestrepräsentanz des Stammkapitals bei ihrer Fassung gewährleistet ist, so daß vermutet werden kann, die in der Gesellschaft vorhandenen Meinungen seien repräsentiert und vor der Entscheidung gehört und erwogen worden. Dieser Zweck ist hinsichtlich des fraglichen Beschlusses insofern erreicht worden, als die Minderheitsgesellschafter durch ihr fortgesetztes Fernbleiben von der Gesellschafterversammlung zum Ausdruck gebracht haben, daß sie mit der Wahl von M zum Geschäftsführer nicht einverstanden seien und einen entsprechenden Beschluß verhindern wollten.

Aus der Tatsache, daß der Kl. zu 1 und der Gesellschafter H die Versammlung am 9. 11. 1989 vor deren offiziellem Beginn verlassen haben, ergibt sich ihr Wille, durch Herbeiführung von Beschlußunfähigkeit einen Beschluß über die Bestellung zu verhindern. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß anschließend das Fernbleiben durch andere Umstände verursacht worden wäre. Insoweit sind die Kl. dem Vorbringen der Bekl., sie hätten die Gesellschafterversammlung boykottiert, auch nicht entgegengetreten. Auch erlaubt in diesem Zusammenhang das spätere Verhalten der Kl., die auch zu nachfolgenden Versammlungen nicht erschienen sind, die Annahme, sie wollten auf diese Art und Weise Beschlüsse verhindern, die sie bei einer Teilnahme wegen ihrer Minderheitsposition nicht hätten verhindern können. Ein solches Verhalten widerspricht jedoch dem Sinn und Zweck der Beschlußfähigkeitsregeln. Es stellt die Ausnutzung einer formalen Rechtsposition entgegen deren Regelungszweck dar und ist somit treuwidrig (vgl. Roth, in: MünchKomm, 2. Aufl. (1985), § 242 Rdnr. 426; Staudinger-Weber, BGB, 11. Aufl. (1961), § 242 Anm. D 38).

Auch wenn man hier für die Annahme der Treuwidrigkeit auf die Begründung gesellschaftlicher Treu- und Förderungspflichten, die über § 242 BGB hinausgehen, nicht angewiesen ist (vgl. Lutter, AcP 180 (1980), 84 (116)), ist zu berücksichtigen, daß die Bekl. ihrer Realstruktur nach eine Personengesellschaft darstellt, bei der Mitarbeit aller Gesellschafter vorausgesetzt wird. Dies führt gegenüber einer typischen GmbH zu gesteigerten Treuepflichten der Gesellschafter gegenüber der Gesellschaft wie auch den anderen Gesellschaftern (vgl. Karsten Schmidt, GesellschaftsR, S. 438). Diese Treuepflichten erfüllt man mit Sicherheit nicht, indem man dem Forum für Meinungsbildung innerhalb der Gesellschaft, der Gesellschafterversammlung, dauernd fernbleibt.

Auch die mögliche Qualifizierung der Beschlußfähigkeitsregeln als Regeln des Minderheitsschutzes änderte an der Treuwidrigkeit des Verhaltens der Kl. nichts. Es ist anerkannt, daß auch Minderheitenrechte wie z. B. Sperrminoritäten bei Satzungsänderungen nicht treuwidrig ausgeübt werden dürfen (Karsten Schmidt, S. 439). Dies muß erst recht für die nicht so weit reichenden Regeln über die Beschlußfähigkeit gelten.

Die Rechtsfolge der Nichtbeachtung der Beschlußunfähigkeit hätte nur noch dann entfallen können, wenn die Bestellung des Gesellschafters M zum Geschäftsführer ihrerseits eine Verletzung der Treuepflicht dargestellt hätte. Das ist indes nicht der Fall. Zwar ist nicht zu übersehen, daß der vorliegende Streit aus tiefgreifenden Auseinandersetzungen der Gesellschafter untereinander resultiert, in deren Verlauf sich zwei Fraktionen gebildet haben, deren Grenze zwischen den Kl. und dem Gesellschafter H einerseits und den übrigen Gesellschaftern andererseits verläuft. Doch ist nichts dafür ersichtlich, daß sich die Mehrheitsfraktion mit dem angefochtenen Beschluß Sondervorteile unter Ausschluß der Minderheitsgesellschafter sichern wollte.

Insbesondere ist mit der Bestellung zum Geschäftsführer keine höhere Bezahlung verbunden, die zu Lasten der Gesellschaft ginge. Ferner ist davon auszugehen, daß die Bestellung eines dritten Geschäftsführers wegen der Regelung in § 5 I 2 der Satzung, die bei mehreren Geschäftsführern eine Vertretung der Gesellschaft durch jeweils zwei von ihnen vorsieht, den Interessen und der Übung der Gesellschaft entsprochen hat, um so deren Handlungsfähigkeit im Falle einer Krankheit oder des Urlaubs eines Geschäftsführers zu verhindern. Letzteres haben auch gerade die Kl. in erster Instanz vorgetragen, wenn auch hinsichtlich eines mit der Berufung nicht weiterverfolgten Antrages.

Auch eine Diskriminierung der Minderheit durch die Mehrheit, etwa durch ein vollständiges Hinausdrängen aus der Geschäftsführung, ist wegen des angefochtenen Beschlusses nicht zu besorgen gewesen, da die Minderheit über den Geschäftsführer H weiterhin in der Geschäftsführung vertreten und ihr Einfluß auf sie gesichert gewesen ist.

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen. Auf die Frage, ob die Satzung in § 11 eine Lücke enthält, die im Sinne einer Hilfsbeschlußfähigkeit durch das dispositive Recht bzw. im Wege ergänzender Vertragsauslegung zu schließen ist, kommt es nicht mehr an.

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